Stephan Pust
Transformationsberatung & Training
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Inspiration - August 2019 „Mit SCARF zu einer agileren Organisation“
Die konkrete Zielstellung für die Steigerung der Agilität eines Unternehmens umfasst dabei in der Regel mindestens drei Themengebiete, um sich von anderen Unternehmen abzuheben:
- Organisatorische Strukturen,
- Technologien und
- Mitarbeiter*innen.
Bei der Fragestellung, „Warum, wofür und wie viel Agilität ein Unternehmen benötigt“, ist explizit die Frage zu beantworten, welche Bereiche des Unternehmens in agilen Arbeitsformen mit agilen Methoden arbeiten sollen und welche Mitarbeiter*innen nicht. Sind die Fragen beantwortet, gilt es den Veränderungsprozess selbst auszugestalten. Die Steuerung der Prozesse der Transformation hin zu einer „agile(re)n Organisation“ ist dabei Aufgabe des Change Managements, das den bestmöglichen Weg zum Ziel für das Unternehmen beschreibt.
Im Change Management hat sich eine Vielzahl von Frameworks herausgebildet. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze, alle stellen das menschliche Individuum als kleinstes soziales Element von Organisationen in den Mittelpunkt. Hierbei kann das SCARF Modell, das von David Rock, Director of the NeuroLeadership Institute, entwickelt wurde, einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung und Anleitung von Führungskräften im Change leisten.
Was ist SCARF?
Neuroleadership kann als „interdisziplinäre Verknüpfung von Erkenntnissen der Neurowissenschaften und der Mitarbeiter*innenführung“ [1] verstanden werden. Die Nutzung von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden soll ein besseres Verständnis von Mitarbeiter*innenverhalten ermöglichen, um in der Folge positive Einflussnahmen zu initiieren.
Das SCARF Modell zur Umsetzung von Neuroleadership basiert vereinfacht ausgedrückt auf dem Prinzip, dass das menschliche Gehirn danach strebt, Bedrohungen zu minimieren und Belohnungen zu maximieren. Mitarbeiter*innen meiden Situationen, die sie „negativ empfinden“ und suchen Situationen, die sie „positiv bewerten“. Das durch neuronale Prozesse ausgelöste Streben von Mitarbeiter*innen nach „minimize danger and maximize reward“ [2], kann dabei insbesondere auch in allen Veränderungsprozessen unterstellt werden.
Das Akronym SCARF, das sich aus den Anfangsbuchstaben von englischsprachen Begriffen zusammensetzt, basiert auf den folgenden fünf Dimensionen: [3]
- Status
- Certainty – Gewissheit, Vorhersehbarkeit
- Autonomy – Autonomie, Selbständigkeit
- Relatedness – Verbundenheit, Zugehörigkeit
- Fairness
Die SCARF Dimensionen
Was bedeutet SCARF im Detail?
Status beschreibt die relative soziale Stellung zwischen Personen; hier die individuell wahrgenommene Wichtigkeit im Vergleich zwischen einzelnen Mitarbeiter*innen des Unternehmens. Bei diesem Begriff sind neben den im engeren Sinne persönlichen Aspekten natürlich auch fachliche und finanzielle Aspekte von Mitarbeiter*innen zu berücksichtigen. Eine vermutete Statusabwertung wird als Bedrohungssituation wahrgenommen, die Mitarbeiter*innen zurückweichen lässt.
Certainty spiegelt den Wunsch von Personen wider, Gewissheit über die Geschehnisse der (nahen) Zukunft zu gelangen. Das Gefühl von Ungewissheit oder fehlender Möglichkeit eine begründete Vorhersage über die Zukunft des Unternehmens treffen zu können, führt in einer Veränderungssituation dazu, dass die Aufmerksamkeit und Energie von Mitarbeiter*innen solange von der eigenen Aufgabe abgezogen wird, bis die erlebte Unsicherheit als beendet erscheint.
Autonomy beschreibt die Wahrnehmung von Kontrolle, die eine Person gegenüber der Umwelt ausüben kann. Die mögliche Einschränkung selbstbestimmten Handelns stellt demnach eine Beeinträchtigung der Autonomie dar und kann starke Bedrohungsreaktionen der Mitarbeiter*innen hervorrufen.
Relatedness beschreibt die Zugehörigkeit von Personen zu einer Gruppe. Empfindet ein Individuum einen Mangel an Zugehörigkeit, wird eine körpereigene Bedrohungsreaktion erzeugt, die sich als Gefühl von Einsamkeit beschreiben lässt. Mitarbeiter*innen suchen nach Zugehörigkeit. Bekannte Personen werden als „Freund“ wahrgenommen. Eine neue Gruppe mit (noch) nicht bekannten Personen, die z.B. durch eine veränderte Arbeitsorganisation entsteht, wird als „Feind“ identifiziert.
Fairness wird von Personen (wie Status) als Relation wahrgenommen und beschreibt die Erwartung von Individuen nach einem gerechten Austausch. Mitarbeiter*innen erwarten von Führungskräften die Gleichbehandlung aller Mitarbeitenden. Erwartet werden „gleiche Regeln und Chancen für Alle“ gerade auch im Veränderungsprozess. Unterschiede, also wahrgenommene Ungleichbehandlungen, werden als Bedrohung wahrgenommen und führen zu einer Demotivation verbunden mit einem Einbruch der erbrachten Leistung.
„Zu ergänzen ist, dass diese Dimensionen (…) nicht vollkommen unabhängig voneinander fungieren, sondern in unterschiedlichem Maße in Wechselwirkung zueinander stehen.“ [4]
Annäherungs- statt Vermeidungsverhalten von Mitarbeiter*innen
Bei einer „gefühlten Abwertung“ dieser fünf Dimensionen des SCARF Modells, werden die hierfür ursächlichen Veränderungen als Gefahr bzw. Bedrohung wahrgenommen. Bedrohungssituationen nehmen einen größeren Teil der Aufmerksamkeit des Menschen ein. Dadurch werden die Wahrnehmung, seine Fähigkeit Probleme zu lösen, und seine Motivation negativ beeinflusst.
Die Folge: Mitarbeiter*innen reagieren mit einem Vermeidungsverhalten, versuchen sich der Veränderung zu entziehen oder aus der Situation zu fliehen. Damit wachsen die Widerstände im Change und Neues zu lernen wird (fast) unmöglich. Oder: die Unternehmen verlieren möglicherweise sogar (fähige) Mitarbeiter*innen, weil diese das Unternehmen aufgrund einer gestiegenen Kündigungsbereitschaft verlassen.
Gelingt es hingegen die aus Mitarbeiter*innen-Sicht relevanten Aspekte zu beachten und „positiv zu bedienen“, erarbeiten Unternehmen im und für den Change der Organisation wesentliche Grundlagen für die erfolgreiche Umsetzung der Transformation.
Die Folge: Mitarbeiter*innen reagieren emotional positiv(er), was zu einer deutlichen Verringerung von möglichen Widerständen im Change führt. Die Bereitschaft, neue Rollen und/oder Aufgaben zu übernehmen steigt aufgrund des Annäherungsverhaltens ebenso, wie die Motivation und die Bereitschaft den Transformationsprozess zu unterstützen.
Positive Beeinflussung der SCARF Dimensionen im Change
Und wie lassen sich die Dimensionen positiv beeinflussen?
Status: Machen Sie frühzeitig deutlich, dass sich Mitarbeiter*innen über ihren relativen Status im Unternehmen keine Sorgen zu machen brauchen.
In der Vergangenheit erworbene Positionen werden in einer agile(re)n Organisation durch neue, attraktive Rollen ersetzt. Nicht immer wird der erworbene Besitzstand in einer Organisation im Wandel eins zu eins übertragbar sein. An die Stelle von Statussymbolen wie „eigenes Büro und eigener Parkplatz“ rücken vielmehr Status aufgrund von besonderen Kompetenzen z.B. als „Vernetzer, Problemlöser oder Mentor von jungen Mitarbeitern.“ [5]
Certainty: Geben Sie Orientierung für den Weg zum Ziel und machen Sie jedem die Rolle deutlich, die er oder sie (zukünftig) im Prozess einnimmt. Schaffen Sie damit Vorhersehbarkeit für das, was passieren wird.
Die Authentizität der Führungskräfte, die die neuen Werte und Überzeugungen offen (vor)leben, ist im Change in besonderer Weise gefragt. Führungskräfte, die authentisch agieren, werden dabei in ihrem aktiven Kommunikationsverhalten als besonders glaubwürdig erachtet. Hier ist insbesondere zu klären, welche Formen der Kommunikation im Veränderungsprozess geeignet sind, das Bedürfnis der Mitarbeiter*innen nach Gewissheit zu unterstützen.
Autonomy: Geben Sie Ihren Mitarbeiter*innen so viel Entscheidungsspielraum wie möglich. Ihre Aufgabe als Führungskraft ist es, dafür den Rahmen klar und nachvollziehbar zu definieren.
Dezentrale Entscheidungskompetenzen, z.B. in selbstorganisierten Teams und Netzwerken stärken die Selbstverantwortung des Einzelnen. Aufgabe von Führungskräften ist es, für Klarheit der Ziele zu sorgen und ihre Führung danach auszurichten, Mitarbeiter*innen in den neuen Rollen anzuleiten und unterstützend zu begleiten. An die Stelle von Führung auf Basis von Hierarchie rückt Partizipation und eine dienende Führung, die Mitarbeiter*innen in ihrer Unterschiedlichkeit erkennt und behandelt.
Relatedness: Stärken Sie das Gefühl der Zugehörigkeit Ihrer Mitarbeiter*innen zum Unternehmen. Finden Sie einen Weg, um Verbundenheit gegenüber „Menschen oder Sachen“[6] zu stärken. Das schafft ein Klima des Vertrauens und der Sicherheit für jeden einzelnen.
Eine Unternehmenskultur des Vertrauens, die für alle Mitarbeiter*innen erlebbar ist, schafft die Grundlage für ein organisationales Commitment als Grundlage für Loyalität und Identifikation. An die Stelle eines festen Teams, mit deren Mitgliedern sich Mitarbeiter*innen verbunden fühlen, rücken hierarchieübergreifende, virtuelle Teams oder Kurzzeitteams. Der Aufbau einer in diesem Sinne weitergefassten Teamfähigkeit aller Beteiligten ist hierbei von besonderer Bedeutung.
Fairness: Sorgen Sie für verständliche Regeln, die Sie transparent vereinbaren, sanktionieren und überwachen. Führungskräfte haben hier den Auftrag, vorbildlich „fair“ zu handeln.
Die Forderung nach Transparenz und einem gerechten Umgang erstreckt sich insbesondere auch auf die Angebote des Unternehmens zur Weiterqualifizierung (Upskilling). Ein Angebot des Unternehmens auf „lebenslanges Lernen“ bildet dabei für die Mitarbeiter*innen die Basis, um auch zukünftig ihre Beschäftigungsfähigkeit zu stärken.
Fazit
Die Anwendung der fünf Dimensionen des SCARF Modells bietet einen Bezugsrahmen für die Gestaltung des organisationalen Wandels zu mehr Agilität im Unternehmen. Der Prozess der Transformation des Unternehmens kann damit wirksam unterstützt werden, weil die Mitarbeiter*innen als menschliche Individuen in den Mittelpunkt gestellt und in ihrem Annäherungs- und Vermeidungsverhalten positiv unterstützt werden können.
Literatur
[1] Ghadiri, A. (2018) Neuroleadership: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/neuroleadership-54108/version-277162
[2] Rock, D. (2009) Your brain ad work
[3] Reinhardt, R. (2014) Neuroleadership – Empirische Überprüfung und Nutzenpotenziale für die Praxis
[4] Reinhardt, R. (o.J.) Neuroleadership: Theoretische Grundlagen, empirische Befunde und kritische Perspektiven
[5] Wurth, K. (o.J.) Der Erfolgsfaktor Mensch in der digitalisierten Arbeitswelt
[6] Gloger, B. / Margetich, J. (2014) Das Srum-Prinzip – Agile Organisationen aufbauen und gestalten
Hinweis:
Dieser Beitrag wurde am 19.08.2019 erstmalig als Gastbeitrag von Stephan Pust im Projektmanagement-Blog der t2informatik GmbH Berlin veröffentlicht.
Inspiration - Dezember 2018 „Führungskräfte als Vorbilder“?
„Führungskräfte sollen Vorbilder sein“, lautet eine zentrale Botschaft, die (un-)ausgesprochen noch immer in den Führungsgrundsätzen von vielen Unternehmen steckt. Diese Anforderung an eine Führungskraft bedarf dringend einer Überprüfung.
Schließlich ist der Begriff Vorbild nicht klar umrissen definiert. So schreibt etwa Professor Hans Mendl: „Dassemantische Feld des Vorbildbegriffs umfasst die ganze Palette von Modellen, Stars, Idolen, Helden, Heiligen –die Begriffe entziehen sich oft einer exakten Definition.“
Führungskräfte als Vorbilder zu empfehlen steht überdies in der Tradition eines Verständnisses von Führung, die heute angesichts des voranschreitenden Prozesses digitaler Transformation in Unternehmen nicht mehr zeitgemäß ist.
Die Leiterin Personalwesen und Mitglied des Vorstandes der Siemens AG, Janina Kugl, fordert zu Recht:„Wir müssen raus aus dem hierarchischen Denken. Es gilt, horizontal zu denken und zu führen.“
Eine Unternehmenskultur, die Nachahmung und Identifikation mit dem Vorgesetzten „als Vorbild“ eingefordert Und gefördert hat, muss endlich überwunden werden. Heute sind Vorgesetzte gefragt, die auf Augenhöhe führen. Eine adäquate Führungskultur im digitalen Zeitalter beschreibt dabei ein Modell, dass Professor Thorsten Petry skizziert hat. Eine Vertrauenskultur im Unternehmen bildet dabei die notwendige Basis für erfolgreiche Führung, „denn ohne sie ist Offenheit und damit dann auch Vernetzung, Partizipation und Agilität nicht möglich“, so Petry.
Wie fragwürdig das Vorhalten kollektiver Leitbilder an sich ist, zeigt übrigens bereits Siegfried Lenz in seinem bereits 1973 erschienen Roman „Das Vorbild“. Schulbuchexperten, die für ein Lesebuch eine Liste ausgewählter Vorbilder zusammenstellen sollen, scheitern am Ende daran. Nicht zuletzt deshalb, weil sich bei Ihnen die Einsicht durchgesetzt hat, dass es viel besser ist, Individuen selbst entscheiden zu lassen, wen sie als eine Vorbildliche Person sehen.